Fortschritt 30.05.2024

Verrückt? Skepsis, Zweifel, Zuversicht

Kona, Big Island, Hawai’i, 11. Oktober 2013, nachmittags um drei Uhr, bei 38 Grad Celsius und 80 Prozent Luftfeuchtigkeit. Ich stehe in der Schlange der wartenden Triathleten, um mich und mein Velo für den bevorstehenden Ironman, die Weltmeisterschaft der besten Profis und der besten Altersklassen-Athleten aus aller Welt, zu registrieren. Es geht nur langsam vorwärts, da kommt man automatisch ins Gespräch mit anderen, die teilweise jahrelang auf diesen grossen Tag hinarbeiten, um endlich die Qualifikation zu schaffen. Ein Lebensziel für viele Triathleten.

Die Vorfreude, aber auch eine wohlig angespannte Stimmung, ist gross. Da fragt mich Alice, eine etwa 45jährige Australierin, drahtig und durchtrainiert, woher ich komme und wie alt ich sei. Wir plaudern ungezwungen. Selbstverständlich kommt ziemlich schnell die auf der Insel in diesen Tagen stets wiederkehrende Frage: „How many times have you been here?“ Grosses Staunen, dass ich mit 67 Jahren zum ersten Mal hier bin. Dann, auf meinen Hinweis: „Ja, und zum ersten und mit Sicherheit zum einzigen Mal“, da lächelt sie und gibt mir zur Antwort: „They always say: once and never again, but they all come back.“ Das will heissen, der Mythos Ironman Hawaii lässt einen nicht mehr los, auch wenn man an diesem einen langen Tag draussen in der Lavawüste noch so gelitten und sich geschworen hat: Nie wieder!

Nie wieder? Und doch!

Ja, und tatsächlich widerfährt mir das jetzt auch. Ich hatte längst abgeschlossen mit meiner wettkampfmässigen sportlichen Aktivität. Hawai’i als letzter, einmaliger Höhepunkt, und das war’s dann! Die folgenden Jahre trat der Sport mehr oder weniger stark in den Hintergrund, es blieben schöne, zuweilen auch lange Radausfahrten und zum Ausgleich regelmässiges Krafttraining. Immerhin!

Vor einem Jahr ist in mir plötzlich nochmals der Gedanke gewachsen, 2013 könnte doch nicht meine letzte sportliche Herausforderung gewesen sein. Und da ich immer schon eine Leidenschaft hatte, mich an grosse Projekte heranzuwagen, lag die Idee nahe: Warum nicht nochmals einen Ironman? Eine Träumerei? In meinem Alter? Zehn Jahre ohne Lauftraining, und schon wieder zehn Jahre älter? Verrückt?

Als erste zeigte sich meine Liebste, Lucretia, von der Idee begeistert, was mir innerlich natürlich sofort Aufschwung gab. Sie kennt mich und weiss, was mir guttut. Monatelang habe ich in der Folge mit dieser Idee gespielt, sie wieder verworfen und doch wieder aufgenommen. So wogen meine Gedanken und Gespräche auch in meinem Umfeld wochenlang hin und her, bis schliesslich der Entscheid feststand. Ja, ich will! Auch mit 78 Jahren darf ich noch Träume und Wünsche und Projekte haben, wenn mich dafür die Leidenschaft antreibt. Ich erfahre viel Unterstützung, aber auch grosse Skepsis („Warum tust du dir das noch an.“ oder ähnlich).

Grundlage: Mein metabolisches Profil

Schliesslich treffe ich mich mit Dan Aeschlimann, die Topadresse unter den Schweizer Triathleten-Coaches. Ich kenne ihn von einem Trainingslager auf Gran Canaria, auch schon eine Weile her: das war 2006. Leistungstest auf dem Ergometer, wissenschaftliche Auswertung. Na ja, der V02max Wert sieht noch alles andere als berauschend aus. Aber wenn ich ihn mit den Werten meiner Alterskategorie vergleiche, stehe ich in der Skala zwischen „good“ und „excellent“. Für den Anfang gar nicht so schlecht. Das war letzten Sommer.

Auf der Basis des mit dem Leistungstest ermittelten metabolischen Profils erstellt mir Dan die auf mein Level zugeschnittenen Trainingspläne. So trainiere ich seit letzten Oktober. Vorher bin ich noch in Süditalien auf einer Velotour heftig gestürzt, schwere Oberschenkelprellung, aber nichts gebrochen. Jedoch: Zwei Monate an Krücken. Ab November hats dann wirklich mit strukturiertem Training begonnen. Trainingspläne digital, nach der modernen Trainingssoftware azum.com. Vom feinsten!

Meine „Baustellen“

„Ich war am Anfang schon ziemlich skeptisch, als du mit deinem Projekt zu mir gekommen bist“, sagt Dan heute. „Ich habe schnell gemerkt, dass da noch viele Baustellen sind, die behoben werden müssen.“ Vor allem dachte Dan dabei daran, dass ich zehn Jahre lang auf jegliches Lauftraining verzichtete, als praktisch damit aufgehört hatte. „Nach dem Leistungstest waren meine Bedenken immerhin nicht grösser geworden“, ergänzte Dan.

Krafttraining im Alter als „Game changer“

Anderseits findet es Dan gut, dass ich mich so früh gemeldet habe und wir fast drei Jahre Zeit haben. „Die ersten Schritte waren, Ruedi afin zu machen für die richtigen Trainingsintensitäten. Ich beobachtete, dass er meistens viel zu hart und zu intensiv trainierte und sich so unnötigerweise auslaugte, sich also abbauend statt aufbauend bewegte. Diese Korrekturen hat er rasch und gut umgesetzt.“ Meine grösste Herausforderung bleibt für Dan, nochmals eine genügende Laufleistung hinzukriegen. Zuversichtlich stimmt ihn anderseits, dass ich das regelmässige Krafttraining voll durchziehe, „ein echter Gamechanger im fortgeschrittenen Alter“, so die Meinung von Dan. Aktuell darf ich laut Dan zufrieden und zuversichtlich sein, Leistungssteigerung seit letztem Oktober etwa um die 20 Prozent. Aber: „Es ist noch ein sehr, sehr langer Weg.“


Share: